Das musikalische Vermächtnis des unvergessenen George Michael ist hochkarätig, vielfältig und groß. In seiner (oftmals turbulenten) Karriere ging der Sänger, Songwriter und Produzent bewusst Risiken ein, erfand sich und seine Musik immer wieder neu, erlebte Triumphe, aber auch manch Tragödie. Jetzt erscheint mit LISTEN WITHOUT PREJUDICE VOL. 1 eine remasterte Version seines revolutionären zweiten Solo-Albums im Doppelpack mit seinem genialen MTV UNPLUGGED-Konzert von 1996 – echte Sternstunden der Pop-Musik!
Text: Alex Gernandt
“Keine Vorurteile!“ – das erbat sich George Michael im Herbst 1990 von seinen Zuhörern, Fans und Kritikern. Denn mit seinem neuen Album, eben LISTEN WITHOUT PREJUDICE VOL. 1 betitelt, überraschte der britische Ausnahme-Sänger mit einer völlig neuen Ausrichtung, sowohl in puncto Musik als auch Optik und Image – und das wohlgemerkt auf einer einzigartigen Welle des Erfolgs!
Mit seinem ersten Solowerk FAITH war Georgios Panayiotou, so sein bürgerlicher Name, 1987 ein Mega-Album gelungen: 25 Millionen mal wurde die Platte verkauft! Mit spektakulären Songs wie “I want your Sex”, “Father Figure”, dem zündenden Titeltrack “Faith” und sexy Videoclips, die bei MTV heavy-rotierten, knüpfte er charttechnisch nahtlos an Wham!-Hits wie “Wake me up before you go-go”, “Club Tropicana” oder “Last Christmas” an. Und bewies gleichzeitig, dass er auch ohne Wham!-Partner Andrew Ridgeley, von dem er sich 1986 trennte, bestehen konnte. Und wie! Allein in den USA schaffte er vier Nummer-eins-Hits, FAITH katapultierte George Michael gegen Ende der 80er in die Sphären von Megastars wie Michael Jackson und Prince!
George blieb auch als Solo-Artist der Posterboy, das von Millionen angehimmelte Popidol, das er mit Wham! geworden war. Auf der großen FAITH-Tournee, übrigens komplett choreographiert von Paula Abdul, spielte er weltweit 137 Shows in ausverkauften Arenen. Frenetischer Jubel und Massenhysterie gehörten zur Tagesordnung, wo immer er auch auftauchte. Zunächst hatten ihm der Ruhm und die plötzliche Aufmerksamkeit der Medien noch geschmeichelt, und er genoss das neue Popstar-Leben in vollen Zügen. Doch je größer der Erfolg wurde – und der damit verbundene Druck – desto mehr wurde dem hochtalentierten 27-Jährigen damals klar, dass das nicht war, was er eigentlich wollte: Er wollte kein Popstar sein. Er sah sich als Vollblut-Musiker.
“There’s someone else I’ve got to be…”
Für LISTEN WITHOUT PREJUDICE, das Nachfolge-Album von FAITH, zog er entsprechend drastische Konsequenzen und schlug eine völlig andere, von vielen unerwartete Richtung ein. Das begann bereits mit der Auswahl des Artworks: Zum ersten Mal zierte nicht das Konterfei des Goodlookers die Plattenhülle, sondern eine Schwarzweiß-Fotografie des Künstlers Arthur Fellig, die einen hoffnungslos übervölkerten Strand bei Coney Island, New York um 1940 zeigte. Darüber hinaus traf George weitere schwerwiegende Entscheidungen: In seinen neuen Videoclips würde er selbst nicht auftreten und obendrein auch keine Promo-Interviews zum Album geben! Eine katastrophale Situation für jede Plattenfirma. Aber George Michael kämpfte um seine Freiheit als Künstler – ohne zu wissen, ob er diesen Kampf gewinnen würde. Er wollte seine Musik, seine Kunst nicht mehr mit Hilfe seines guten Aussehens vermarkten, sondern endlich für die Qualität seiner Kompositionen anerkannt und als Musiker und Songwriter respektiert werden. Im neuen Stück “Freedom 90” manifestierte er das mit der Zeile “There’s someone else I’ve got to be…” und reflektierte gleichzeitig seine Vergangenheit als Pop-Pin-up, die ihm einst schnellen Ruhm eingebracht hatte: “When you shake your ass/ they notice fast/ and some mistakes were built to last…”
Hit-Formeln – Nein, Danke!
Im Studio hatte George zwischen Dezember 1988 und Sommer 1990 fieberhaft an einem neuen Sound getüftelt. Sich auf früher funktionierende Hit-Formeln zu verlassen, war nicht seine Sache. Er wollte experimentieren, sich neu erfinden, künstlerisch wachsen – und sich vor allem niemals wiederholen. Diesem Prinzip sollte er fortan treu bleiben. Das erste Ergebnis dieser unkonventionellen Maßnahmen war nun LISTEN WITHOUT PREJUDICE Vol.1, das am 3. September 1990 veröffentlicht wurde. Die Erwartungen von Fans wie Medien waren nach dem Welterfolg von FAITH entsprechend groß. Und George, der das neue Album wieder im Alleingang ganz nach seinen Vorstellungen produziert hatte, gelang tatsächlich ein musikalisches Meisterwerk, das wie etwa Michael Jacksons THRILLER das Kunststück schafft, heute noch so aktuell zu klingen wie damals. Die neuen Songs waren größtenteils akustisch instrumentiert, weniger tanzbar und sie überraschten mit einer ungewohnt düsteren Intensität, was Texte und Melodien betraf.
“Praying For Time” wurde die erste Single. Und George hielt Wort! Im dazugehörigen Video tauchte er wie versprochen nicht auf, lediglich die nachdenklich stimmenden Lyrics zu dem Song, der von sozialen Missständen und Ungerechtigkeit handelt, waren zu sehen. Die Rechnung ging auf: Der melancholische Track schien den Nerv der Zeit zu treffen und wurde Georges neunter (!) Nummer-eins-Hit in den USA.
Eine echte Medien-Sensation gelang ihm wenig später mit der Single “Freedom 90” und dem dazugehörigen Video. Die Jahreszahl hatte er angehängt, damit es nicht zu Verwechslungen mit dem gleichnamigen Wham!-Song von 1984 (“I don’t want your freedom”) kam. Wieder zeigte sich George nicht selbst im Clip, ließ dafür aber die größten Supermodels ihrer Zeit aufmarschieren: Cindy Crawford, Linda Evangelista, Naomi Campbell, Christy Turlington und Tatjana Patitz lip-synchten die Lyrics zu “Freedom”, stolzierten dabei aufreizend übers Parkett und wurden in der Folge noch berühmter! George hatte die fünf kurz zuvor auf dem von Peter Lindbergh fotografierten Cover der britischen Vogue entdeckt. Im Video ließ er auch demonstrativ diverse George-Michael-Devotionalien aus FAITH-Zeiten vernichten und in die Luft jagen, etwa seine Lederjacke, die zerrissenen Jeans oder eine Jukebox gefüllt mit FAITH-Titeln. Regie führte David Fincher, der auch für Madonnas bahnbrechende Videos zu “Vogue” und “Express yourself” verantwortlich zeichnete.
Der Los Angeles Times schilderte George seine Situation damals in einem seltenen Interview: “Ich bin an einem Punkt in meiner Karriere angekommen, an dem sich die Beziehung zwischen Kameras und mir umgekehrt und ins Negative gewandelt hat. Anfangs wollte und brauchte ich die Kamera, die damit verbundene Aufmerksamkeit, aber letztendlich wurde es keine glückliche Beziehung und ich fühlte mich zunehmend gefangen!”
“Listen…” – Die Befreiung!
LISTEN WITHOUT PREJUDICE wurde zu so etwas wie George Michaels Befreiungsschlag! Als weitere outstanding tracks des Albums sind “Waiting for the Day” und “Cowboys and Angels” (mit starkem Sax-Solo von Andy Hamilton) zu nennen, dazu “Heal the Pain”, “Mothers Pride”, eine weitere Ballade, die während des ersten Golfkriegs 1991 zu Ehren gefallener Soldaten oft im US-Radio gespielt wurde sowie “They won’t go when I go”, die wunderbar gefühlige Coverversion des von George hochgeschätzten Soul-Genies Stevie Wonder.
Seine absolute Unbeirrbarkeit, sein bemerkenswerter Mut zur Veränderung zahlte sich schließlich für George Michael aus: LISTEN WITHOUT PREJUDICE entwickelte sich zum Millionenseller, toppte u.a. die britischen Charts, gewann mehrere Awards als bestes Album und besteht bis heute, fast 30 Jahre nach Veröffentlichung, den “test of time”. George schaffte es, sein ihm lästig gewordenes Posterboy-Image abzustreifen und endlich als großer Musiker wahrgenommen zu werden!
Bis an Weihnachten 2016 das Schicksal zuschlug: Am 25. Dezember verstarb George Michael tragisch und völlig unerwartet in seinem Haus in Goring-on-Thames, Oxfordshire. Er wurde nur 53 Jahre alt. Mit ihm ging ein großartiger Sänger, ein begnadeter Songwriter und grandioser Performer. “YOG” (Yours Only George) beeinflusste mit seinem Werk aktuelle Künstler wie Beyoncé, Adele, Justin Timberlake, Bruno Mars oder Sam Smith maßgeblich. Und wenn man sich LISTEN WITHOUT PREJUDICE und das großartige MTV-UNPLUGGED-Konzert anhört, wird einmal mehr deutlich, warum. Die Aufnahmen zu MTV UNPLUGGED fanden am 11. Oktober 1996 in den Londoner Three Mills Studios statt. Begleitet von seinen Musikern und einem mehrköpfigen Backgroundchor performt George Titel aus seiner gesamten Karriere in akustischem Soundgewand, darunter natürlich auch “Freedom 90” und “Praying for Time”. Dabei entwickeln die Songs eine ganz neue Qualität. Bemerkenswert ist auch, mit welcher Andacht das Publikum George Michael zuhört. Genau so hatte er sich das immer gewünscht.
Anfang 2016 suchte George nach der perfekten Single, um die mit Spannung erwartete Neuauflage von LISTEN WITHOUT PREJUDICE VOL. 1/MTV UNPLUGGED zu lancieren und “Fantasy” war seine erste und präferierte Wahl. Er kontaktierte Hit-Macher Nile Rodgers – den einzigen Mann auf dem Planeten, der dem Song mehr Funk verleihen konnte, als es sowieso schon hatte. Jetzt ist der Song da!
GEORGE MICHAEL: LISTEN WITHOUT PREJUDICE 25
Mit LISTEN WITHOUT PREJUDICE 25 gibt es 2017 eine komplett remasterte Version des Longplayers – und zwar als LP (180g), Doppel-CD sowie als Box-Set mit drei CDs + DVD (Limited Edition).
Veröffentlichung: 20. Oktober 2017
LISTEN WITHOUT PREJUDICE / MTV UNPLUGGED (3CD + DVD/Limited Edition):
Die Box mit drei CDs und einer DVD enthält neben dem neu gemasterten Album einen remasterten Mittschnitt von Michaels MTV-Unplugged-Konzert in den Three Mills Island Studios. Der Sänger perfomte dort einige seiner größten Solohits von den Alben FAITH und LISTEN WITHOUT PREJUDICE VOL. 1 sowie Songs von seiner Band Wham!.
CD 3 des Box-Sets enthält zudem seltene B-Seiten, Mixe und Liveversionen. Die Bonus-DVD zeigt verschiedene Promovideos sowie ein Special der britischen TV-Show “The Southbank Show” aus dem Jahr 1990. Abgerundet wird diese Deluxe-Box von einem 36-seitigen Booklet mit Linernotes, Fotos und Erinnerungen aus dem persönlichen Archiv von George Michael.
- Erhältlich bei:
LISTEN WITHOUT PREJUDICE / MTV UNPLUGGED (2CD):
Auch die Doppel-CD beinhaltet neben dem neu gemasterten Album den remasterten Mittschnitt von Michaels MTV-Unplugged-Konzert in den Three Mills Island Studios.
- Erhältlich bei:
LISTEN WITHOUT PREJUDICE / MTV UNPLUGGED (LP/180g):
Der schwarze Klassiker auf Vinyl enthält alle 10 Titel des Original-Albums in remasterter Qualität.
- Erhältlich bei: